Teal-Organisation: Die Zukunft der Arbeit aus der Perspektive einer Führungskraft
Entwicklung von Organisationen

Teal-Organisation: Die Zukunft der Arbeit aus der Perspektive einer Führungskraft

Porträtfoto von Timm Urschinger, Mitgründer und CEO von Consulting Start-up LIVEsciences
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Wir leben in einer sich rasch verändernden Welt. Unzählige Systeme und ihre Elemente um uns herum interagieren miteinander, ohne dass eine offensichtliche kontrollierbare Kausalität besteht. All das macht unsere Berufswelt sehr komplex. Wie kann es hier gelingen, Arbeit neu zu organisieren?

Gerade in den letzten Jahren sind nicht nur neue Bedürfnisse entstanden, durch die Corona-Pandemie wurden Entwicklungen sogar enorm beschleunigt. Wir diskutieren über hybride und dezentrale Arbeitsformen, die Schaffung moderner Arbeitsplätze, die ein starkes kulturelles Rückgrat für das Unternehmen bilden, B-Corps, SDGs und andere Nachhaltigkeitsziele und vieles mehr.

All das führt zu einer notwendigen Schlüsselfähigkeit für die Entwicklung von Organisationen:
Auf organisatorischer und individueller Ebene schnell und effektiv auf Veränderungen zu reagieren und gleichzeitig unsere mentale Gesundheit zu bewahren. Aber wie kann das gelingen?

Setzen wir beim Cynefin Model an: Dieses beschreibt, dass wir zwischen komplexen und komplizierten Systemen unterscheiden sollten. Organisationen agieren (größtenteils) in komplexen Umfeldern, in denen die richtige Strategie „probe-sense-respond“ – das heißt experimentieren, schnell anpassen und lernen – ist. Dezentrale Führung und Entscheidung begünstigen Experimente und damit die Innovation. Ebenso wie psychologische Sicherheit, die Wholeness (=Ganzheitlichkeit) und Purpose ermöglicht und so den Mut fördert, Leidenschaft für die oben genannte Strategie zu entwickeln.

Teal-Organisation: Selbstmanagement, Ganzheitlichkeit und Evolutionärer Sinn

Die Antwort aus Organisationssicht darauf ist „teal“! Das Modell von Frédéric Laloux (Reinventing Organizations: A Guide to Creating Organizations Inspired by the Next Stage of Human Consciousness) beruht auf drei Grundprinzipien: Selbstmanagement, Ganzheitlichkeit und Evolutionärer Sinn.

Mehr Selbstmanagement: Wenn plötzlich alle führen

Agile oder selbstorganisierte Unternehmen benötigen eher mehr als weniger Führungskräfte! Paradox, aber erklärbar: Weil jeder eine Führungspersönlichkeit ist, übernehmen alle Führung – im Gegensatz zu einigen wenigen Auserwählten in traditionellen bürokratischen und hierarchischen Organisationen.

Es ist ein interessanter Spagat, seiner eigenen Verantwortung gerecht zu werden, ohne dabei zu direktiv oder zu kontrollierend zu wirken. In einer Teal-Organisation gibt es deshalb entsprechend hohe Erwartungen an, beziehungsweise Forderungen nach Führung und Autonomie zugleich. Im Idealfall ermutigt man Menschen in selbstorganisierten Unternehmen immer wieder dazu, sich die Freiheit zu nehmen, ein Ziel zu verfolgen, das für einen selbst, für die Organisation und die Gesellschaft sinnvoll ist.

Das Prinzip des Selbstmanagements ermöglicht es so jedem Einzelnen, eine fast grenzenlose Freiheit zu erleben, das zu tun, was man möchte, auch wenn man dabei ebenso viele Pflichten erfüllt. Beides geht Hand in Hand und sehr leicht. Unter einer Voraussetzung: Da sich heutzutage alles so schnell bewegt und man sich regelmäßig in unsicheren und neuartigen Situationen wiederfindet, ist es wichtig – und dafür müssen alle sorgen, beziehungsweise ein Bewusstsein entwickeln – sich selbst und die eigene Rolle innerhalb der Organisation immer wieder intensiv zu reflektieren. Eine Sicherheitsmaßnahme mit dem Ziel, keine bürokratischen Strukturen aufzubauen, die niemandem dienen – oder gar neue Machtstrukturen zu schaffen, die sich nur schwer wieder ändern lassen, sobald sie sich einmal manifestiert haben.

Ganzheitlichkeit: Beim Scheitern, Lernen und Wachsen

Neben der Einführung von Selbstmanagementpraktiken experimentieren Teal-Organisationen mit neuen Ansätzen für das Arbeitsumfeld im Hinblick auf „Ganzheitlichkeit“. Man ist sozusagen auf der Suche nach einer menschlicheren Zusammenarbeit.

Im Mittelpunkt steht dabei oft der Aspekt der psychologischen Sicherheit als Basis dafür, sich als Person voll und ganz zu zeigen und gleichzeitig auch Basis für die viel geforderte Fehlerkultur oder Speak Up Culture. Das größte Missverständnis beim Thema safe space ist, dass jede/r alles teilen und über alles reden muss. Niemand sollte man zwingen über private Themen zu sprechen, über die er nicht reden möchte oder Gefühle zu offenbaren, die noch nicht reif dafür sind etc. Unter der Voraussetzung allerdings unterstützen sich die Mitglieder eines Teams gegenseitig unermüdlich auf dem Weg des Scheiterns, des Lernens und des Wachstums.

Verletzlichkeit und die Fähigkeit, „Ich weiß nicht“ zu sagen, sind Begriffe, die Teal-Organisationen als Stärke betrachten und zu der Mitarbeitende, vor allem, wenn sie neu im Team sind, stets ermutigen sollte. Im Falle eines Scheiterns macht man in einem traditionellen System (unbewusst) die für die Initiative verantwortliche Person meist auch verantwortlich. Im Gegensatz dazu versuchen Teal-Organisationen, daraus zu lernen und zu verstehen, warum es passiert ist, damit sich die gleichen Fehler in Zukunft nicht wiederholen.

Scheitern ist Teil der Innovation. Das bedeutet nicht, dass niemand für seine Taten und Fehler verantwortlich ist. Im Gegenteil: Sich selbst als Unternehmer zu sehen, der für seine Verpflichtungen, sein Arbeitspensum und die Einhaltung gemeinsamer Grundsätze sowie für ihre Fähigkeiten und Grenzen verantwortlich ist, ist natürlich nicht immer eine angenehme Erfahrung und erfordert ein hohes Maß an individueller Reife.

Evolutionärer Sinn: Damit Zweck und Ziele erfüllt werden

Der Slogan „Purpose statt Profit“ ist derzeit überall zu lesen. Natürlich ist der Sinn bzw. Zweck für ein Unternehmen von entscheidender Bedeutung. Insbesondere, wenn es darum geht, teal oder agil zu sein.

Gleichzeitig geht es aber darum, den Evolutionären Sinn zu erfüllen, um damit ein lebensfähiges Unternehmen zu schaffen. Es geht nicht um ein Entweder-oder, Sinn oder Profit, sondern vielmehr um eine ganzheitliche Integration von beidem im Alltag – sowohl im Business als auch persönlich. Sofern man das überhaupt noch trennen soll und kann. Das Unternehmen ist ein lebendiger Organismus mit lebendigen Organismen. Deshalb gilt es mehr zu spüren und zu reagieren, anstatt die Zukunft vorherzusagen und alles kontrollieren zu wollen. Für Letzteres ist die Welt zu groß und komplex geworden.

Ein wesentlicher Punkt, den man bei der Diskussion um den Sinn sowie die darauf aufbauende Zielsetzung im Auge behalten sollte, ist: Das Gespräch darüber ist viel wichtiger als die endgültige Aussage! Bei jeder Entscheidung, die getroffen wird, insbesondere bei den größeren und folgenreicheren, sollten sich Teal-Organisationen fragen: Bleiben wir unserem Ziel treu, wenn wir diesen Weg gehen? Das kann beispielsweise bedeuten, Kunden auch einmal abzulehnen, wenn die Anfrage oder ihr Vorgehen nicht mit den eigenen Werten übereinstimmt.

Umso wichtiger ist es, sich als Organisation regelmäßig über den eigenen Sinn und Zweck sowie die Ziele auszutauschen: Was ist wirklich unser Evolutionärer Sinn? Was bedeutet dieses Wort für mich persönlich und für uns als Unternehmen? Wie können wir das Ganze mit Leben füllen?

Es ist nicht leicht, „teal“ zu sein

Obwohl Teal viele Vorteile hat, ist es keineswegs einfach oder immer bequem. Tatsächlich kann es jeden innerhalb des Systems manchmal mehr oder weniger überfordern. Es braucht Zeit und harte Arbeit, um all die Praktiken, Gewohnheiten, Überzeugungen und Wertesysteme, die durch frühere Erfahrungen geprägt wurden, zu verlernen oder abzubauen. Vor allem ist es eine ständige Reise der persönlichen Entwicklung – und die ist weder immer nett, noch wollen wir manchmal in den Spiegel sehen und sicher kostet sie auch sehr viel Energie.

Aus diesem Grund muss vor allem der Onboarding-Prozess darauf abzielen, eine solide Begleitung bei diesem neuen Abenteuer sein. Mitarbeitende, die in einer Teal-Organisation zu arbeiten beginnen, müssen lernen, dass es normal ist, sich verloren und verunsichert zu fühlen. Und man auch nicht so tun muss, als hätte man immer die Lösung oder fühle sich wohl – was in traditionellen Unternehmen normalerweise der Fall ist. Vor allem die Solidarität eines bestehenden Teams bzw. des ganzen Unternehmens macht diese Phase für die meisten jedoch gut überwindbar.

Fazit: Neue Ansätze sind gefragt!

Teal oder Agilität ist natürlich keine magische Lösung für alle Probleme oder Herausforderungen. Es ist ein Konzept und ein Ansatz, der es uns ermöglicht, auf die Herausforderungen zu reagieren, die uns gestellt werden. Es ist wünschenswert, dass sich mehr Unternehmen und Führungskräfte trauen, etwas Neues und Anderes auszuprobieren.

Fast jeder ist sich bewusst, dass wir nicht einfach so weitermachen können wie bisher. Vielleicht ist „Agil“ nicht der richtige Weg, vielleicht ist „Teal“ nicht der richtige Weg, aber das Experimentieren mit anderen, neuen Ansätzen wird uns sicherlich helfen, den Paradigmenwechsel zu vollziehen, den wir so dringend brauchen!

Bildnachweis: ©istockphoto.com/alphaspirit

Über den Autor

Porträtfoto von Timm Urschinger, Mitgründer und CEO von Consulting Start-up LIVEsciences

Timm Urschinger Timm Urschinger ist Mitgründer und CEO von LIVEsciences. Nach dem Studium sowie einigen Jahren bei einem bekannten Pharma-Konzern in der Schweiz und im Consulting beschloss er ein eigenes Unternehmen zu gründen. Seine Erfahrung im Management globaler Programme und Transformation hat in ihm die Leidenschaft geweckt, pragmatische und innovative Lösungen zu entwickeln – für das eigene Unternehmen und für Kunden. livesciences.com
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