Die Leere nach dem Ruhestand
Viele Führungskräfte betroffen

Die Leere nach dem Ruhestand

Porträtfoto von Dr. med. Steffen Häfner, Facharzt und ärztlicher Direktor an der Klinik am schoenen Moos
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Endlich in Rente, endlich Zeit für die schönen Dinge des Lebens? Was nach Freiheit und Entspannung klingt, führt viele Führungskräfte und Karrieristen in ein emotionales Loch – Experten sprechen dann vom sogenannten Empty-Desk-Syndrom. Was hat es damit auf sich und wie lässt es sich vermeiden?

Herausforderung Ruhestand

Klare Routinen, geordnete Struktur – so lässt sich der Alltag vieler Arbeitnehmer beschreiben. Außerdem sind Beschäftigte im Beruf in ein soziales Umfeld eingebunden. Beides fällt mit dem Eintritt in den Ruhestand weg. Plötzlich ändern sich tägliche Abläufe grundlegend, der Kontakt zu den ehemaligen Kollegen bricht ab und es stehen keine Aufgaben mehr an. Das Resultat: Seelische Unordnung und innere Leere, an die sich viele nur schwer gewöhnen.

Für viele Betroffene stellt die Rente somit nicht das herbeigesehnte Ziel dar, sondern eine ganz neue Herausforderung: Zahlen einer Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung aus dem Jahr 2022 zeigen, dass bis zu 15 Prozent der Ruheständler weiterarbeiten. Für 57 Prozent der Befragten spielte Einkommen dabei keine Rolle, sondern ausschließlich soziale Motive. Insgesamt geben 91 Prozent der Befragten den Kontakt zu anderen Menschen als Beweggrund an. Spaß an der Arbeit spielt bei 97 Prozent der Rentner eine Rolle, während 92 Prozent unter anderem auch nach einer erfüllenden Aufgabe suchen.

Angst vor dem leeren Schreibtisch

Als Empty-Desk-Syndrom, oder zu Deutsch Angst vor dem leeren Schreibtisch, bezeichnen Experten ein Phänomen mit vielfältigen Symptomen. Betroffene geraten nach dem Ende ihrer Berufstätigkeit in ein emotionales Tief. Sie empfinden eine bedrückende Leere sowie Sinn- und Wertlosigkeit und haben das Gefühl, ohne ihre Tätigkeit keinen Zweck mehr zu erfüllen. In vielen Fällen kommt soziale Isolation hinzu, weil bestehende Kontakte im Arbeitsumfeld wegfallen. In Folge entstehen Langeweile und Frust bis hin zu Depressionen.

Andererseits versuchen einige, der Situation durch Aktionismus zu entkommen. Sich unüberlegt in neue Projekte und Hobbys zu stürzen, führt jedoch zu Überforderung und Unruhe. Nicht selten treten auch Konflikte in der Partnerschaft auf, da Ruheständler nun viel Zeit zu Hause verbringen und sich an Aufgaben wie Haushalt oder Wocheneinkauf beteiligen, mit denen sie vorher nie zu tun hatten. Letztlich wünschen sich Menschen, die am Empty-Desk-Syndrom leiden, an den Schreibtisch zurück, um der inneren Leere zu entkommen.

Karriere als Risikofaktor

Nicht für jeden, der in den Ruhestand übertritt, wird dieser zur Qual. Ein deutlich erhöhtes Risiko besteht jedoch für Karrieristen und Führungskräfte. Bei diesen Personengruppen hält der Alltag zumeist hauptsächlich Arbeit parat, Lücken im Terminkalender sind eine Seltenheit. Somit bleibt wenig Zeit für Hobbys, Familie oder soziale Aktivitäten. Stattdessen haben Menschen dieser Personengruppen sich mit ihrer Tätigkeit jahrelang Anerkennung und Status hart erarbeitet, worauf sie berechtigterweise sehr stolz sind.

Gefühle von Wertschätzung und Sinnhaftigkeit ziehen sie außerdem aus ihrer Führungsfunktion, die mit großer Verantwortung für das Unternehmen und seine Mitarbeiter einhergeht. All das fällt im Ruhestand weg, was den Selbstwert stark belastet und empfundene Bedeutungslosigkeit hervorruft. Es gilt: Je erfolgreicher und je höher die wöchentliche Arbeitszeit, desto größer das Risiko, die Rente als Belastung zu empfinden.

Geschlechter ungleich betroffen

Zahlen des statistischen Bundesamtes aus dem Jahr 2022 belegen: Mehr als 70 Prozent der Führungskräfte in deutschen Unternehmen sind Männer. Da das Empty-Desk-Syndrom unter anderem hauptsächlich durch den Verlust von Verantwortung und Status hervorgerufen wird, liegt in der hohen Männerquote unter Führungskräften ein Hauptgrund dafür, dass hauptsächlich Männer betroffen sind.

Jedoch gibt es noch weitere relevante Aspekte zu beachten: Geschichtlich gewachsen betrachten sich viele Männer auch heute noch als Versorger und Ernährer ihrer Familien und identifizieren sich darüber hinaus deutlich stärker mit ihrer Karriere als Frauen.

Verlieren sie den Beruf, kommt es zu einer Identitätskrise, einem wahrgenommenen Verlust des eigenen Wertes. Auch in der klassischen Rollenverteilung liegt der Fakt begründet, dass Frauen häufig ein größeres soziales Netzwerk außerhalb der Arbeit vorzuweisen haben – schließlich betreuen sie in der Regel die Kinder und lernen darüber laufend neue Menschen kennen. Zuletzt scheinen Frauen auch ein besseres Gespür für bevorstehende Änderungen zu haben und bereiten sich entsprechend frühzeitiger und umfangreicher vor als ihre männlichen Partner, wodurch ihr Renteneintritt weniger risikobehaftet ist.

Strategien zur Vorbeugung

Wer dafür Sorge tragen möchte, dass die eigene Rente zum bestmöglichen Lebensabschnitt wird, dem stehen ausreichend Optionen zur Verfügung. Bei der Planung gilt: Je früher, desto besser. Denn wer bereits einige Jahre im Voraus beginnt, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen, hat es leichter. Im Fokus stehen dabei die Fragen: Wo will ich leben? Was will ich erleben? Was will ich sehen? Die Beantwortung legt eine gute Grundlage für die weiteren Schritte.

Im Folgenden ist es ratsam, sich mit Hobbys und Kontakten auseinanderzusetzen. Denn wer schon während der Berufstätigkeit Zeit in Hobbys investiert, hat auch in der Rente eine verlässliche Basis für den Alltag. Eine Mitgliedschaft in Vereinen oder sozialen Einrichtungen stellt gleichzeitig eine Lösung für den sozialen Aspekt dar. Denn so bietet sich nicht nur eine sinnvolle Tätigkeit, sondern auch ein damit verbundenes Umfeld und ein Gefühl von Wertschätzung und Sinnhaftigkeit.

Angehende Ruheständler sollten auch überlegen, welche Aspekte ihrer Arbeit ihnen besonders fehlen werden und durch welches Hobby oder welche Tätigkeit sich diese ersetzen lassen. Beispielsweise können in einem Verein oder einer Stiftung in Form eines Amtes Verantwortung und Führungstätigkeiten übernommen werden. Möglich wäre auch eine beratende Funktion im alten Unternehmen oder eine Dozentenstelle, durch die andere vom eigenen reichen Erfahrungsschatz profitieren. Hilfreich ist es auch, sich im Vorfeld persönliche Ziele zu setzen, auf die später hingearbeitet werden kann. Damit erhalten die goldenen Jahre einen roten Faden.

Rolle von Partnern, Familie und Freunden

Nicht allein zu sein, ist Balsam für die Seele. Das gilt vor allem in schwierigen Lebensphasen, darunter auch der Übergang in den Ruhestand. Dieser kann schließlich nicht nur eine persönliche Belastungsprobe sein, sondern auch die Beziehung überschatten. Denn ist der Partner, der immer arbeiten war, plötzlich ständig zu Hause, besteht Konfliktpotenzial – die neue gemeinsame Zeit kann auf beide Seiten belastend wirken.

Deshalb spielt Unterstützung durch den Partner bei der Suche nach neuen Rollen und Aktivitäten eine essenzielle Rolle. Dabei sollte mit Gefühl vorgegangen und Verständnis für Sorgen und Ängste des Gegenübers aufgebracht werden. Anders gesagt: Kommunikation ist der Schlüssel zum Erfolg. Möglicherweise gelingt es auch, gemeinsam neue Interessen und Hobbys zu entdecken und zusammen ein weiteres soziales Umfeld aufzubauen.

Wenn es dann so weit ist, kann der Ruhestand zusammen genossen werden. Ähnliches gilt auch für Freunde: Zuhören, zur Seite stehen, gemeinsame Aktivitäten planen und den Kontakt halten, erleichtert die belastende Zeit.

Therapie- und Unterstützungsmöglichkeiten

Allgemein gilt, dass die zuvor genannten Maßnahmen auch noch zum Erfolg verhelfen können, wenn jemand bereits im emotionalen Loch feststeckt. Neue Freizeitaktivitäten, neue Freunde und neuer Lebenssinn haben immer einen positiven Effekt. Wie in allen Situationen, bei denen negative Emotionen eine Rolle spielen, hilft außerdem sportliche Betätigung. Schon ein täglicher Spaziergang an der frischen Luft verbessert das Wohlbefinden und vertreibt negative Gefühle.

Wer dennoch nicht aus dem Tief kommt, hat trotzdem Aussicht auf Besserung: Beispielsweise bietet die Psychotherapie mit der damit verbundenen kognitiven Verhaltenstherapie gute Erfolgsaussichten. Dabei identifizieren Patienten zusammen mit Ärzten die negativen Gedankenmuster und Verhaltensweisen, die das Empty-Desk-Syndrom begleiten, und lernen, diese zu verändern. Geschieht dies in Gruppentherapie, bietet es zugleich eine Gelegenheit, Gleichgesinnte kennenzulernen und sich auszutauschen, zu unterstützen und Erfahrungen zu teilen. Daraus können neue Freundschaften entstehen, die wiederum den Symptomen entgegenwirken.

Bildnachweis: ©istockphoto.com/Peopleimages

Über den Autor

Porträtfoto von Dr. med. Steffen Häfner, Facharzt und ärztlicher Direktor an der Klinik am schoenen Moos

Dr. Steffen Häfner Dr. med. Steffen Häfner ist Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie und ärztlicher Direktor der Klinik am schönen Moos in Bad Saulgau. Seit ihrer Gründung im Jahr 1990 behandeln hier spezialisierte Therapeuten und Ärzte ein breites Spektrum von psychischen und psychosomatischen Erkrankungen. www.klinik-a-s-moos.de
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